WG96 – Briefentwurf an Alma Mahler
Berlin, zwischen Sonntag, 6. und Dienstag, 8. November 1910
Ich bin überzeugt, daß eine
Verbindung, wie sie sich zwischen
uns mehr u mehr gestaltet
in unserem Zeitalter der
Schnelligkeit u Flachheit selten
ist. Das \Mein/ Interesse für das
\am/ menschlichen Herz läßt mich
ziemlich \meine Umgebung/ scharf die beobachten
und ich finde fast nirgends
Bismarck Briefe
oder Diner bei Conrads
Ich tauge weder für \den Umgang mit/ meiner Umgebung
noch für die Arbeit, wenn ich ohne
jedes Lebenszeichen von Dir bin
mein Charakter wird schlecht davon
ich raisoniere und bin ungerecht
mit den meinigen
Ich beklage die unsinnigen
die die flüchtigen Genüsse,
die ich nicht vermisse, der
Aufrichtigkeit einer ewigen Ekstase
vorziehn
metaphysisches Gefasel
Wahrheit erreichen.
Verstand
Schreibe mir über ; ich will
Dein Urteil hören. ich schwöre Dir
keine zweite Frau giebt es, die
ich um diesen Dienst bitten
würde
achte auf Deine Gesundheit
Halbe Nächte spreche ich mit Dir nicht
heiter aber zärtlich. Ich sage Dir
sehr süße Dinge und male mir
aus welchen Eindruck sie auf
Dich machen. Wenn ich dann allein
wieder \Das/ aufwachen ist dann die
bangste Minute am Tage, man
spürt dann so plötzlich u hart
das \die/ Alle Trennung.
____
nicht leichtsinnig mit
Deinem Körper sein
Die Natur kümmert sich wenig
um gut u böse. Erhaltung des Indi-
viduums u Fortpflanzung der Art.
Ich bin wahnsinnig vor Sehnsucht
die ganze Welt bist mir Du, ich
werde unstet und ruhelos bleiben bis
Du mir ein Kind geschenkt hast
meine Liebe ist unerschöpflich
nach und nach werde ich Dir meine
Fehler selber sagen
Ich möchte das Wunder \den Zauber/ der
Mutterschaft bei Dir erleben
Ich habe Gründe dies zu glauben
spreche mit niemand anders darüber
auch empfindsame Seele wie Du
zum Leben nicht tauglich. R##a
Mit meinem Blut würde ich
Dich tränken. Du lieber Liebling
ich möchte lieber sterben als
Dir Kummer bereiten
muß Dich abgöttisch lieben,
denn Du bist ein so unerhört
seltener Mensch
Ich habe mich bisher immer
auf der Größe u Höhe der Auf-
fassung unserer Liebe gehalten
es kamen noch keine blassen
Augenblicke. Mir beweist das
sehr viel für mich selbst, denn
es ist im übrigen Leben schwer
sich immer auf gleicher Größe \einem Niveau/
zu halten und alles Kleine zu
vermeiden
Die Muse und die Liebe be-
glückt nur freiwillig.
Die ungeheuren Kämpfe
die Du bestandest endeten
mit dem Siege über
alles Wünschen u Begehren
versöhnen, lindern, trösten
erleichtern.
Alle früheren Eindrücke
waren unhaltbar gegen die
der letzten Monate
Die Erschütterungen haben
Spuren eingegraben
Alles ist bis zum
äußersten zart u empfind-
lich in mir geworden
Stillung jeden Be-
gehrens, edel würdige Über-
windung. Nicht unruhige
Stimmungen zeigen son-
dern heitere.
all unser Sehnen u
Begehren birgt u stillt
Deine Vertraulichkeit
Toblacher Abend
Das Haus steht in Flammen
wir werden uns mehr und mehr
verwandt
Laß mir alles immer hin-
gehen, nichts in Dir hervor-
drängen wollen
Wir können ja Beruf
nur durch ruhiges Arbeit
Abwarten unsern
Zweck, zusammen- Dampfbad
zuleben erreichen
Du bist besser als alles, was
ich bisher erkannt u erlebt habe
Dein ganzes Leben ist gut
sich gegenseitig aufnehmen ist
ein inneres geheimes Leben
sei, wie ich, so ruhig und ohne
Wanken in Deinem Gefühl.
Aller Lust habe ich aus
Liebe zu Dir entsagt
_______
Werde nicht müde, immer
dasselbe zu hören |
Du süßer \lieblicher/Traum meines
Lebens
_______
Ich habe kein Mittel dagegen, daß
ich Dich lieber habe als mir gut
ist
_____
Lebwol meine tausendfach Geliebte
ich hoffe daß Dir diese
etliche Reihe vor Jahren
eben so lang wird wie mir
____
Wie mir Erd und Himmel
schwanden in der Stille
der süßen Nacht
4 Abschiede schon, wieviel
Wehmut zog sich schon über
unsere Seele
_____________
Lido
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Ein inniges Zutrauen ohne Ver-
dacht daß Du Dich gegen mich
verstellen könntest
Apparat
Überlieferung
, , , , , , , , , , , .
Quellenbeschreibung
6 Bl. (6 b. S.) – Papierbogen.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
Antwort auf AM43 vom 27. Oktober 1910 (Ich denke mit Wehmuth der ungenützten Stunden und verspreche Dir, mich für Dich aufzuheben): 4 Abschiede schon, wieviel Wehmut zog sich schon über unsere Seele. Beantwortet durch AM48 vom 23. November 1910 (Außerdem – lebe ich jetzt bravest. Fränkel will mich ganz gesund machen!! – Ich war noch nie so brav u. folgsam, als jetzt): achte auf Deine Gesundheit […] nicht leichtsinnig mit Deinem Körper sein.
Datierung
Die Korrespondenzstellen ermöglichen die Datierung des Entwurfes. AM43, der erste Brief AMs aus den USA, wurde am 27. Oktober versendet und kam bei WG sehr wahrscheinlich am 6. November 1910 an (s. WG94). Da in WGs Liste abgesendeter Briefe an AM (WG92) am 8. November Brief Nr. 7 verzeichnet ist, kann der vorliegende Entwurf auf den Zeitraum zwischen 6. bis 8. November 1910 datiert werden.
Themenkommentar
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Tim Reichert)
Bismarck Briefe – wahrscheinlich Liebesbriefe an seine , vgl. , S. 368–372.
Conrads – Möglicherweise war bei zum Diner eingeladen, der seit 1910 Oberpräsident der Provinz Brandenburg war und für den 1911 eine Einrichtung entwarf (, S. 376). Zudem war Tante , genannt Tante Nusha, Ehefrau von Onkel , eine Schwester von . Siehe auch WG74 vom 17. oder 18. September 1910: Conrad Hausbauidee.
Die Muse […] freiwillig. – nach einem von , S. 381 edierten Liebesbrief an , Zürich, zwischen 1853 und 1858: „Denn die Muse, wie die Liebe, beglückt nur freiwillig.“
Die ungeheuren Kämpfe […] Begehren – nach dem von , S. 381 edierten Abschiedsbrief an , August 1858: „Die ungeheuren Kämpfe, die wir bestanden, wie könnten sie enden, als mit dem Siege über jedes Wünschen und Begehren?“
Alle früheren Eindrücke […] Monate – nach , S. 382: „Alle früheren Eindrücke waren inhaltlos gegen die letzten.“
Die Erschütterungen […] eingegraben – nach , S. 382: „Erschütterungen, wie ich sie bei jener Katastrophe erlitt, mussten mir tiefe Spuren eingraben.“ Zum Begriff Katastrophe s. Einleitung von Briefkapitel II.
Alles ist […] geworden – nach , S. 383: „Jetzt, wo Alles bis zum äussersten zart und empfindlich in mir geworden ist durch die längere Entwöhnung von aller Berührung mit ihr.“
Stillung […] Überwindung – nach , S. 383: „Stillung jedem Begehren! Edle, würdige Überwindung!“
all unser Sehnen […] stillt – nach , S. 385: „Lass’ uns diesem schönen Tode weihen, der all’ unser Sehnen und Begehren bergt und stillt!“
Scheibe – , ein enger Freund und Bildhauer.
Dietrich – , enger Freund , Architekt und Bruder des Bildhauers .
Aller Lust […] entsagt – nach den „“ des Mönchs an seine Geliebte, ediert in , S. 3: „Wie du getan hast, habe ich auch gethan, aller Lust habe ich aus Liebe zu dir entsagt, an dir allein hange ich, auf dich habe ich alle meine Hoffnung und mein Vertrauen gesetzt.“
4 Abschiede – in Tobelbad (Juli 1910), Toblach (August 1910), Wien (September 1910) und Paris (Oktober 1910).
Lido – s. WG90 vom 20. bis 25. Oktober 1910.